IR Notes 247 – 5 März 2025
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  Eine Frage an …
Roland Erne, Professor für Europäische Integration und Arbeitsbeziehungen, University College Dublin

Was sind die wichtigsten Argumente dafür, dass der Gerichtshof den Schlussfolgerungen seines Generalanwalts für eine Aufhebung der Mindestlohnrichtlinie nicht folgt (s. IR Notes n° 244)?
Zunächst möchte ich mich der Meinung mehrerer Rechtsprofessoren anschließen, die die Argumentation des Generalanwalts Emiliou aufgrund seiner ungenauen Auslegung der bestehenden Rechtsprechung für falsch halten (1). Denn sollte der Gerichtshof der von Generalanwalt Emiliou vorgeschlagenen Auslegung des Art. 153 AEUV folgen, müsste er eine ganze Reihe von Richtlinien in Frage stellen. Emiliou vertritt den Standpunkt, dass die EU keine Kompetenzen im Bereich Vergütung hat. Dies hat die EU jedoch nicht davon abgehalten, Richtlinien zu erlassen, die sich direkt mit Fragen zur Vergütung befassen: Die Entsenderichtlinie führt den Grundsatz „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ ein oder die jüngste Entgelttransparenz-Richtlinie, die Arbeitgeber verpflichtet, Audits durchzuführen, wenn Lohnunterschiede festgestellt werden, und diese zu beseitigen.
Hinzu kommen eher politische Argumente, über die ich in einem Artikel spreche (2). Die Streichung der Richtlinie würde das Misstrauen der Beschäftigten gegenüber der EU weiter verstärken, besonders in den Ländern, die Rettungspläne zur Bewältigung der Finanzkrise 2018 akzeptieren mussten. Damals zögerte der EU-Rat nicht, Maßnahmen zu ergreifen, die zu einer Kürzung der Löhne führten, ohne sich darüber Gedanken zu machen, ob er die Kompetenz dazu hatte (3). Esther Lynch, die jetzige Generalsekretärin des EGB, war damals für diese Frage zuständig und hatte vergeblich die Kompetenz des Rats angefochten. Alle beim Gerichthof eingereichten Klagen scheiterten mit der Begründung, die Lohnkürzungen seien gerechtfertigt, weil die europäische Wirtschaft stabilisiert werden musste. Wenn der Gerichthof entscheidet, dass die EU keine Kompetenzen im Bereich Vergütung hat, widerspricht er sich. Und das wäre für die Beschäftigten schwer zu akzeptieren.
Sollte die dänische Regierung in dieser Sache gewinnen, würde die Legitimität der EU in den Augen der Bevölkerung weiter geschwächt. Die Arbeitnehmer würden nicht verstehen, warum Lohnkürzungen zugunsten der Arbeitgeber rechtmäßig sind, eine Richtlinie über Mindestlöhne zugunsten der Arbeitnehmer aber nicht. Der Gerichtshof kann entscheiden wie er will, weil der AEU-Vertrag Artikel enthält, die so oder so ausgelegt werden können. Eine Nichtigerklärung könnte den Mitte-Rechts-Parteien von Ursula von der Leyen und Emmanuel Macron entgegenkommen, die den Rechtsakt unterstützt haben, um die Legitimität der EU in der Bevölkerung im Rahmen der neuen wirtschaftspolitischen Steuerung der EU nach einem Jahrzehnt arbeitnehmerfeindlicher Maßnahmen zu stärken. Sie könnten dann Krokodilstränen vergießen und behaupten: „Wir waren für die Richtlinie, die die Rechte der europäischen Beschäftigten stärkt, aber leider war sie nicht rechtmäßig“!


(1) Kilpatrick, C., Steiert, M., A little learning is a dangerous thing: AG Emiliou on the Adequate Minimum Wages Directive (C-19/23, Opinion of 14 January 2.025), EUI, LAW, Working Paper, 2025/02
(2) Erne, R. (2025) „The EU Minimum Wage Directive: To Be or Not to Be?“ Social Europe, 24. Februar
(3) siehe Erne, R., Stan, S., Golden, D., Szabó, I. und Maccarrone, V. (2024): Politicising Commodification. European Governance and Labour Politics from the Financial Crisis to the Covid Emergency. Cambridge University Press.


> Siehe auch: Die Gegenstellungnahme des Europäischen Gewerkschaftsbunds

 
  Agenda

 


5. März
Brüssel
Kommissarin Mînzatu stellt ihr Vorhaben „Union der Kompetenzen“ vor, und wird den Pakt für den europäischen sozialen Dialog unterzeichnen.


5. März
Paris (und online)
Seminar „Beschäftigungspolitik“ zum Thema „Anpassung der Arbeit an den Klimawandel!“


10. März
Brüssel

Tagung des Rats "Beschäftigung und Soziales" (Website)


20.-21. März
Brüssel
Tagung des Europäischen Rats (Website)


3. April
Noisy-le Grand (Frankreich)

Workshop von IRES mit dem Titel „Wie resilient sind Eurobetriebsräte (EBR)? Von Brexit-Verhandlungen zu Perspektiven des sozialen Dialogs“. IRES stellt die Umfrageergebnisse zu den Auswirkungen des Brexits auf EBRs vor.


3.-4. April
Warschau
Konferenz der polnischen EU-Ratspräsidentschaft mit dem Titel „Aufbau einer digitalen Zukunft im Kontext von Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz


4.-6. Juni 2025
Bordeaux

5. Weltkongress des Netzwerks CIELO Laboral: „Welchen Wandel unterläuft das Sozialrecht angesichts des Wandels der Arbeit?“, mit der Unterstützung von COMPTRASEC, CIEST und dem europäischen Projekt Care4Care.

 
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In den Schlagzeilen
Unternehmen: weniger nachhaltig und weniger wachsam

Am 26. Februar legte die EU-Kommission zwei Maßnahmenpakete namens „Omnibus“ vor: Die europäischen Unternehmen sollen wieder wettbewerbsfähig werden, indem ihr Verwaltungsaufwand um „mehr als 6 Milliarden Euro“ verringert wird – dank der Überarbeitung der Lieferketten-Richtlinie (s. Due diligence), der Richtlinie über die Nachhaltigkeitsberichterstattung (s. Sustainability reporting) sowie der Taxonomie-Verordnung - den wichtigsten in der letzten Amtsperiode verabschiedeten Rechtsvorschriften des Green Deal (s. European Green Deal). Diese Maßnahmen folgen auf den starken Druck, den Arbeitgeber auf Europaabgeordnete und Regierungen ausübten. Bereits im Oktober 2023 hatte eine Mehrheit der Abgeordneten gegen einen Entschließungsantrag gestimmt, der eine Ablehnung der von der Kommission vorgelegten delegierten Verordnung forderte: In der Verordnung werden die Europäischen Standards für die Nachhaltigkeitsberichterstattung (Environmental and Social Reporting Standards – ESRS) genannt, die in den Nachhaltigkeitsberichten enthalten sein müssen (s. IR Notes 217). Gleichzeitig versprach die neue Kommission in ihrem Arbeitsprogramm für die Amtsperiode, die mit den Meldepflichten verbundenen Belastungen der Bürger und Unternehmen um 25 % zu verringern, „ohne jedoch die Sozial-, Sicherheits-, Umwelt- oder wirtschaftlichen Standards“ zu senken (s. IR Notes 217).  Nachdem der Rat die Kompromissfassung der Lieferketten-Richtlinie abgelehnt hatte, erzielten Rat und Parlament im März 2024 eine Einigung, die schließlich zur Annahme führte, doch nur, weil ein Teil der Ambitionen des Vorschlags geopfert wurden (s. IR Notes 226). Doch die Gegner gaben sich nicht geschlagen. Sie setzten ihre intensive Lobbyarbeit fort, wobei sie sich auf den Draghi-Bericht zur Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit beriefen, um die Kommission dazu zu bewegen, eiligst die beiden Richtlinien zu überarbeiten (s. IR Notes 236). Das Omnibus-Paket hat also zum Ziel, die Ansprüche an die europäischen Rechtsvorschriften zu Nachhaltigkeitsberichterstattung, Taxonomie und Sorgfaltspflichten herunterzuschrauben. Die Arbeit und der demokratische Prozess mehrerer Jahre werden damit einfach vom Tisch gefegt, als wären diese Texte das Ergebnis kollektiver Blindheit und würden zum Teil den Wettbewerbsrückstand der EU gegenüber den USA erklären.
Es stimmt, dass Mario Draghi auf einigen der insgesamt 300 Berichtsseiten die durch Gesetze verursachten übermäßigen Verwaltungslasten anspricht, insbesondere aufgrund einer Reihe von Unstimmigkeiten und Doppelungen. Doch im Mittelpunkt seiner Botschaft stehen vielmehr eine echte Industriestrategie, eine Kapitalmarktunion sowie eine deutliche Steigerung von Investitionen, auch öffentlicher, über europäische Anleihen. Die Kommission ist stolz auf das Ergebnis ihrer Arbeit und sieht in ihrem „Omnibus“-Vorschlag „einen wichtigen Schritt zur Schaffung eines günstigeren Geschäftsumfelds, das den Unternehmen in der EU zu Wachstum, Innovationen und zur Schaffung hochwertiger Arbeitsplätze verhelfen wird“.
Die Initiative erregt nicht nur den Zorn der Gewerkschaften, sondern auch und mehr noch den der NGOs, die in der Definition der Interessenträger nicht mehr auftauchen. Nur die Arbeitgeberverbände sind zufrieden (s. unten). Ein ideologischer Sieg, den sie kaum mit den vielen Unternehmen teilen können, die sich dafür einsetzen, ihre Nachhaltigkeit nachzuweisen, um Investoren zu überzeugen und damit Zugang zu Finanzierungen zu erhalten.
Die Rechte der Arbeitnehmervertreter scheinen zurzeit nicht gefährdet. Doch für eine Reihe von ihnen fallen diese Vorschriften nun weg, die ihnen Informationen liefern sollten, über die sie derzeit nicht verfügen. Diejenigen, für die diese Vorschriften weiterhin gelten, müssen damit rechnen, dass sie den Zugang zu bestimmten Indikatoren verlieren (die Kommission verspricht eine Vereinfachung und eine Kürzung der zu prüfenden Punkte) und wahrscheinlich weniger in die verschiedenen Phasen der Erstellung von Nachhaltigkeitsberichten oder Risikokartierungen eingebunden werden (die Kommission spricht davon, Interessengruppen da einzubeziehen, wo sie unverzichtbar sind).
Die Vorschläge werden jetzt Parlament und Rat zur Prüfung und Annahme vorgelegt. Die Änderungen der CSRD- und CS3D-Richtlinien sind vorrangig zu bearbeiten und „treten in Kraft, sobald sich die Mitgesetzgeber über die Vorschläge einigen und nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der EU“, verkündet die Kommission. Die Umsetzungsfristen sind kurz, um den „wichtigsten Anliegen nachzukommen, die von den Interessenträgern identifiziert wurden“. Die Vereinfachung wird also nicht sofort erfolgen, zumal das Parlament wahrscheinlich wenig begeistert ist, die Rechtsvorschriften, für die es gekämpft hat, wieder aufzuschnüren. Es sei denn, die EVP-Abgeordneten spielen die Karte des Populismus aus und verbünden sich zu diesem Anlass mit den rechtsextremen Parteien. Da die CSRD-Richtlinie von den Mitgliedstaaten bereits größtenteils in nationales Recht umgesetzt worden ist, müssen die Regierungen einen Gesetzgebungsprozess einleiten, um an ihren eigenen Gesetzen den Hobel anzusetzen. Und das nennt sich dann Vereinfachung …


1. Europäische Union
Gesetzgebung

Industriestrategie und Umstrukturierungen : Am 26. Februar veröffentlichte die EU-Kommission eine Mitteilung zum „Deal für eine saubere Industrie“, die eine Reihe von Maßnahmen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen enthält:  die Dekarbonisierung der Wirtschaft, die Senkung der Energiekosten und der Schutz vor unlauterem Wettbewerb werden unterstützt. Die Initiative greift zum Teil sowohl Forderungen  der Gewerkschaften  (s. Pressemitteilungen des  EGB und von IndustriAll Europe) als auch der Arbeitgeber auf (s. Pressemitteilungen von BusinessEurope und von Ceemet). In der Mitteilung wird der künftige „Fahrplan für hochwertige Arbeitsplätze“ genannt, der „Beschäftigten in der Übergangsphase helfen“ soll. Die Kommission wird mit den Sozialpartnern über einen Rahmen diskutieren, um den Umstrukturierungsprozess auf der Ebene der EU und der Mitgliedstaaten zu unterstützen. Schwerpunkte sind ein gerechter Übergang, Vorwegnahme von Veränderungen, schnelleres Eingreifen bei drohenden  Umstrukturierungen und ein verbesserter Rahmen für die Unterrichtung und Anhörung  (s. Pressemitteilung und Restructuring). Zu diesem Punkt präzisiert der Metallarbeitgeberverband CEEMET, dass er zwar durchaus für einen „Rahmen für einen gerechten Übergang ist, der von den Sozialpartnern ausgehandelt und genehmigt wird, doch sind wir der Meinung, dass die bereits bestehenden europäischen und nationalen Rechtsvorschriften Massenentlassungen und Umstrukturierungsprozesse behandeln, sodass alle weiteren EU-Maßnahmen in diesem Bereich unnötig sind“ (s. Pressemitteilung).


Vorhaben

Erleichterung bei Nachhaltigkeitsberichten : Die Nachhaltigkeitsberichte sind eine zu große Bürde für Unternehmen, vor allem für KMU? Daran soll es nicht scheitern! Die Kommission holt ihre Kettensäge raus und setzt den Schwellenwert für die Mitarbeiterzahl der betroffenen Unternehmen höher. Laut Richtlinienvorschlag zur Änderung der Richtlinie 2022/2464 vom 14. Dezember 2022 zur Nachhaltigkeitsberichtserstattung von Unternehmen (CSRD-Richtlinie) verbleiben nur noch Unternehmen mit mehr als 1.000 Beschäftigten (anstatt 250) und mit einem Nettoumsatz von mehr als 50 Millionen Euro oder einer Bilanzsumme von mehr als 25 Millionen Euro im Geltungsbereich der Richtlinie. Damit fallen rund 80 % aller betroffenen Unternehmen heraus. Alle Unternehmen mit weniger als 1.000 Beschäftigten werden aufgefordert, freiwillig „angemessene und vereinfachte Standards“ zu befolgen. Die größten Unternehmen müssen, wie vorgesehen, einen Bericht anhand des ersten Sets der ESRS erstellen, aber auch diese Standards werden noch gekürzt (zum jetzigen Zeitpunkt steht noch nicht fest, welche gestrichen werden). Es geht darum, „die Anzahl der ESRS-Datenpunkte erheblich zu reduzieren, indem diejenigen entfernt werden, die für die allgemeinen Nachhaltigkeitsberichte am wenigsten wichtig erscheinen“, heißt es im Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen. Die Kommission schlägt außerdem vor, die Berichtserfordernisse für die Unternehmen um zwei Jahre (bis 2028) zu verschieben, die zurzeit in den Geltungsbereich der Richtlinie fallen und die ab 2026 oder 2027 einen Bericht vorlegen müssen (s. Richtlinienvorschlag in Bezug auf die Termine für das Inkrafttreten). Die Informationsbeschaffung in der Lieferkette wird ebenfalls eingeschränkt.



Einschränkung der Sorgfaltspflichten : Kaum in Kraft getreten, wird die Richtlinie 2024/1760 vom 13. Juni 2024 über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit (CS3D-Richtlinie) entkernt: Die betreffenden Unternehmen müssen jetzt nur noch ihre direkten Geschäftspartner (Direktlieferanten) bewerten. Somit sollten sie laut dem Richtlinienvorschlag, über die erste Ebene hinaus, Zulieferer nur noch dann bewerten, wenn sie über plausible Informationen verfügen, dass es in der Lieferkette tatsächliche oder potenzielle negative Auswirkungen gibt. Wie im Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen dargelegt, „verringert die Tatsache, dass sich die Sorgfaltspflichten auf die direkten Zulieferer beschränken, den sachlichen Geltungsbereich, die potenzielle Belastung für die betreffenden Unternehmen sowie den Trickle-Down-Effekt für Geschäftspartner erheblich, vor allem für KMU und kleinere Unternehmen in der EU als auch darüber  hinaus.“ Bei ihrer Risikokartierung sollten die Unternehmen die Informationen, die sie von ihren direkten Geschäftspartnern (KMU mit bis zu 500 Beschäftigten) einfordern, auf die Informationen beschränken, die in den freiwilligen Standards für die Nachhaltigkeitsberichterstattung (VSME-Standards) der überarbeiteten CSRD-Richtlinie festgelegt sind. Bei schwerwiegenden Verletzungen sind die Unternehmen als letztes Mittel nicht mehr verpflichtet, die Geschäftsbeziehung mit ihrem Zulieferer abzubrechen, sondern sie auszusetzen. Die Kommission will auch die Bezeichnung „Interessenträger“ überarbeiten, indem „die Definition vereinfacht wird und sich auf Beschäftigte, ihre Vertreter, Einzelpersonen und Gemeinschaften beschränkt, deren Rechte oder Interessen „direkt“ von den Produkten, Dienstleistungen und Aktivitäten des Unternehmens, seiner Tochtergesellschaften und Handelspartner betroffen sind oder sein könnten“. Ein Text, der die NGOs wohl aufs Abstellgleis schiebt. Die Häufigkeit der regelmäßigen Bewertungen und Überprüfung ihrer Geschäftspartner wird von einem auf fünf Jahre erhöht. Und schließlich spielt die Kommission auch auf Zeit -  sie hält es für erforderlich, dass die Unternehmen mehr Zeit bekommen, „um sich auf die neuen Anforderungen vorzubereiten“: Die Erfüllung der Sorgfaltspflichten für die größten Unternehmen wird um ein Jahr (auf den 26. Juli 2028) verschoben, die Annahme der Leitlinien wird um ein Jahr (auf Juli 2026) vorgezogen (s. Richtlinienvorschlag in Bezug auf die Termine für das Inkrafttreten).


Aktuelle soziale Themen

Reaktionen der europäischen Sozialpartner : Laut Europäischem Gewerkschaftsbund (EGB) schwächt der Vorschlag „die Mechanismen, mit denen Unternehmen für die Ausbeutung der Beschäftigten in ihren Lieferketten zur Verantwortung gezogen werden“ (s. Pressemitteilung). „Es handelt sich nicht um eine Vereinfachung. Es handelt sich um eine Deregulierung“, beklagt Isabelle Schömann, stellvertretende Generalsekretärin des EGB. „Diese beiden Gesetzestexte über Menschenrechte sind die Früchte jahrelanger Beratungen, Analysen und Verhandlungen. Abgesehen davon, dass es nicht effizient ist, ist es zutiefst undemokratisch, die Ergebnisse dieses Prozesses rückgängig zu machen.“ Für sie ist der Vorschlag „das Ergebnis eines manipulierten Prozesses, bei dem die Europäische Kommission zu ihrer ‚Anhörung‘ fünf Mal mehr Lobbyisten der Unternehmen als Vertreter von Gewerkschaften und NGOs eingeladen hat“. Auf Seiten der Arbeitgeber gibt es zufriedene Gesichter und die Forderung, noch weiter zu gehen. „Die Vorschläge zur Beseitigung der Unausgewogenheit im sachlichen Geltungsbereich und bei der Haftung im Rahmen der CS3D stellen wesentliche Fortschritte dar“, meint Markus J. Beyrer, Generaldirektor von BusinessEurope (s. Mitteilung). „Außerdem ist die erhebliche Reduzierung der im Rahmen der CSRD jährlich zu erfassenden, zu bescheinigenden und zu veröffentlichenden Datenmenge sehr zu begrüßen, denn das bedeutet greifbare Vereinfachungen, ohne die Ziele aus dem Blick zu verlieren.“ Dennoch „sind weitere Anstrengungen erforderlich, um einen einheitlichen Ansatz zur Sorgfaltspflicht zu gewährleisten und eine Fragmentierung in den nachgelagerten Segmenten zu verhindern.“


Rechtsprechung

Algorithmen-Transparenz : Der Gerichtshof der Europäischen Union hat am 27. Februar ein Urteil in einer Rechtssache erlassen, die eine Kundin gegen einen Mobilfunkbetreiber angestrengt hat. Dieser verweigerte ihr aufgrund fehlender Bonität den Abschluss eines Vertrags. Da die Entscheidung auf einem Algorithmus beruhte, hat der Gerichtshof entschieden, dass der Verantwortliche „das Verfahren und die Grundsätze, die konkret zur Anwendung kommen, so beschreiben [muss], dass die betroffene Person nachvollziehen kann, welche ihrer personenbezogenen Daten im Rahmen der in Rede stehenden automatisierten Entscheidungsfindung auf welche Art verwendet wurden, ohne dass die Komplexität der im Rahmen einer automatisierten Entscheidungsfindung vorzunehmenden Arbeitsschritte den Verantwortlichen von seiner Erläuterungspflicht entbinden könnte.“  Dieses Urteil ist auch für arbeitsrechtliche Streitigkeiten relevant, wenn eine Entscheidung des Arbeitsgebers auf einer automatisierten Entscheidung durch einen Algorithmus beruht. Das Urteil zeigt auch, dass sich der Gerichtshof der Sache annimmt, wenn sich die Kommission weigert, einen Rechtsrahmen für algorithmisches Management in Unternehmen zu entwickeln  (s. Pressemitteilung).


Sektoraler sozialer Dialog

Zivilluftfahrt : Am 7. November 2024 nahmen die europäischen Sozialpartner in der zivilen Luftfahrtbranche eine gemeinsame Erklärung zum ausgewogenen Geschlechterverhältnis an. Darin hoben sie hervor, wie wenige Frauen im Cockpit sitzen (5,2 %) und in den Bereichen Flugsicherung, Wartung und Bodenabfertigung tätig sind. Für die Unterzeichnenden ist die Ausgewogenheit zwischen Männern und Frauen „oberste Priorität“. Zu diesem Zweck verpflichten sie sich, bei Frauen für diese Berufe zu werben, aber auch die Arbeitsorganisation zu überdenken, Frauen flexible Arbeitszeiten und Teilzeitstellen anzubieten sowie ihre Bedürfnisse in der Mutterschaft zu berücksichtigen. Als Beispiel wird  die Fluggesellschaft Turkish Airlines angeführt, die den gesetzlichen Mutterschaftsurlaub von 16 auf 20 Wochen verlängert hat und Frauen die Möglichkeit einräumt, in Teilzeit zu arbeiten, bis die Kinder das Grundschulalter erreicht haben (s. Mitteilung der ETF).


2. Mitgliedstaaten
Spanien

Demokratie am Arbeitsplatz : „Ohne Demokratie am Arbeitsplatz ist die Demokratie unvollständig.“ Dies erklärte die Ministerin für Arbeit und Sozialwirtschaft Yolanda Díaz am 20. Februar bei der Einrichtung eines Fachausschusses unter der Leitung der belgischen Soziologin Isabelle Ferreras, Forschungsleiterin des Fonds für wissenschaftliche Forschung FNRS, wissenschaftliche Mitarbeiterin in Harvard und Oxford und Soziologieprofessorin an der Katholischen Universität Löwen. Der Ausschuss, der Vorschläge zur Stärkung der Demokratie am Arbeitsplatz erarbeiten soll (s. Pressemitteilung), hat die Aufgabe, Art. 129.2 der Verfassung zu konkretisieren, in dem es um die verschiedenen Formen der Arbeitnehmerbeteiligung in Unternehmen und Genossenschaften geht sowie um den Zugang der Beschäftigten zum Eigentum an den Produktionsmitteln. „Auf dieser Grundlage“, erläutert Sara Lafuentes, wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Europäischen Gewerkschaftsinstitut und Ausschussmitglied, „hat der Gesetzgeber die Unterrichtung und Anhörung von Beschäftigten oder die Beteiligung in der Sozialwirtschaft geregelt, aber kein Gesetz über irgendeine Form der finanziellen Beteiligung oder Vertretung von Beschäftigten in Leitungsorganen erlassen.“ Nach einem ersten gescheiterten Versuch 2024, dieses Thema im Parlament zu erörtern (s. Artikel in Social Europe), hat Yolanda Díaz jetzt einen neuen Ansatz gewählt: Experten sollen im September einen Bericht vorlegen. Er wird aus zwei Teilen bestehen: Einer zielt darauf ab, eine Diagnose anhand von wissenschaftlicher Literatur anzufertigen um zu verstehen, was die Beteiligung der Arbeitnehmer angesichts zahlreicher Krisen, wie der Umweltkrise, zu Unternehmensentscheidungen beisteuern kann. Im zweiten Teil, so Sara Lafuentes, „sollen rechtliche Lösungen mit Zielsetzungen und Maßnahmen vorgeschlagen werden, um diese dann im Rahmen des dreigliedrigen sozialen Dialogs mit den Sozialpartnern zu diskutieren, bevor sie in ein Gesetzesvorhaben münden.“ Die Initiative steht im Einklang mit dem im Juni 2021 angenommenen Parlamentsbericht von Gabriele Bischoff zur Demokratie am Arbeitsplatz und den Schlussfolgerungen zu Demokratie am Arbeitsplatz und grünen Tarifverhandlungen, die im November 2023 auf Initiative von Yolanda Díaz vom EU-Rat angenommen wurden. Die von Experten aus mehreren Ländern durchgeführte Auswertung der wissenschaftlichen Literatur zu den Vorteilen der Demokratie am Arbeitsplatz könnte eine breitere öffentliche Reflexion und Debatte in Spanien anstoßen und zu einer Arbeitsgrundlage für Gewerkschaften in anderen Mitgliedstaaten werden, die mehr Beteiligung an Unternehmensentscheidungen fordern.


Italien

Tarifvertrag in der Elektrizitätswirtschaft : Die Sozialpartner in der Elektrizitätswirtschaft haben am 11. Februar ihren Branchentarifvertrag für den Zeitraum 2025-2027 erneuert. Der Tarifvertrag, der für 60.000 Beschäftigte gilt, sieht eine Anhebung der Mindestlöhne vor, „mit der die Auswirkungen der Inflation der letzten Jahre angemessen ausgeglichen werden“ - so die drei unterzeichnenden Gewerkschaften -, sowie eine Verkürzung der Arbeitszeit. Die drei halben „freien Nachmittage“ werden nun zu drei ganzen arbeitsfreien Tagen. Außerdem wird die Stundenzahl des individuellen Weiterbildungsanspruchs erhöht: 2026 von 40 auf 45 und 2027 dann auf 50 Stunden. Ebenfalls neu: Pflicht zur vorherigen Unterrichtung und Anhörung auf Betriebsebene zur KI. Mit diesem Thema wird sich auch die paritätische Beobachtungsstelle für den Sektor beschäftigen, neben Fragen zur Energiewende, neuen Szenarien zur Dekarbonisierung oder Maßnahmen gegen den Klimawandel. Die Unterzeichnenden verlängern die bezahlte Freistellung von Opfern von sexualisierter Gewalt und Belästigung von 6 auf 12 Monate. Die Bestimmungen zum Zugang zur Telearbeit oder Teilzeitarbeit blieben unverändert.


3. Unternehmen
Europäische Betriebsräte

Verhandlungen in Pflegeunternehmen : Mitte Februar fand in Oslo die erste Verhandlungsrunde zur Einsetzung eines EBR im europäischen Konzern Norlandia (4.000 Beschäftigte) statt. Norlandia beschäftigt Mitarbeiter in Finnland, Norwegen und Schweden. Auch im französischen Gesundheitskonzern Colisée sollen Verhandlungen abgeschlossen werden. Der Konzern betreibt Seniorenheime (s. Mitteilung). Die Verhandlungen sind Teil eines Projekts, das der Europäische Gewerkschaftsverband für den öffentlichen Dienst seit 2020 durchführt, um EBRs in großen privaten Gesundheitskonzernen einzurichten.



Fehlzeiten : Die Unternehmensleitung von Clariane (60.000 Beschäftigte) und der SE-Betriebsrat (SE-BR) haben einen Leitfaden für bewährte Managementpraktiken zur Bekämpfung von Fehlzeiten ausgearbeitet. Der Leitfaden hat fünf Themenbereiche: Arbeitsorganisation, Fehlzeitenmanagement, Wertschätzung der Teams, Betriebsklima und Prävention zur Gewährleistung von Sicherheit und Gesundheitsschutz. Für das Fehlzeitenmanagement wird beispielsweise vorgeschlagen, jeden Freitagnachmittag die Aushilfskräfte oder befristet Beschäftigten anzurufen, die am Wochenende eingesetzt werden, um sich ihrer Anwesenheit zu vergewissern. Oder den Höchststand bei Fehlzeiten zu ermitteln und die Angaben mit den Ereignissen vor Ort abzugleichen. Die Empfehlungen basieren vor allem auf Erfahrungen von Führungskräften, denen es gelungen ist, die Fehlzeiten an ihrem Standort in Frankreich und Deutschland zu senken. Der Leitfaden wurde in alle Sprachen übersetzt und in allen Ländern verteilt. Erstellt hat ihn eine Arbeitsgruppe, die im Anschluss an die gemeinsame Erklärung des SE-BR zur Senkung der Fehlzeiten 2022 eingesetzt wurde.

 


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